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Krise in Norditalien "Corona kam wie ein Tsunami über uns"

Allein in der Lombardei sind in den vergangenen 24 Stunden 76 Menschen am Coronavirus gestorben. Die Intensivstationen sind überfüllt, Ärzte und Schwestern arbeiten im Akkord.
Vor dem Klinikum in Brescia testen Ärzte Verdachtsfälle auf das Coronavirus

Vor dem Klinikum in Brescia testen Ärzte Verdachtsfälle auf das Coronavirus

Foto:

FILIPPO VENEZIA/EPA-EFE/Shutterstock

Es sind Bilder wie aus einem Endzeitfilm, entstanden im Gebietskrankenhaus im oberitalienischen Cremona: Ärzte in Ganzkörperschutzanzügen mit Brille und Mundschutz sind darauf zu sehen, wie sie sich im Akkord um Patienten kümmern, die halbnackt und künstlich beatmet auf ihren Betten liegen. Die Mediziner und Krankenschwestern auf der Intensivstation der Klinik sind, so sagt es die Koordinatorin Carla Maestrini dem Sender La7, "mit den Kräften am Ende, fürchterlich müde, wir haben so viele Patienten".

Massimo Galli, Chefarzt für Infektionskrankheiten am Mailänder Krankenhaus Luigi Sacco, sagt, bei ihm seien die reguläre Abteilung für Infektionskrankheiten und zwei Sektoren in der Chirurgie freigeräumt worden, nur um die akutesten Fälle von Erkrankungen am Coronavirus unterbringen zu können. Das Personal arbeite zwölf bis 14 Stunden, täglich, es fehle an Virologen, Internisten, Lungenfachärzten, die in einem solchen Katastrophenfall dringend benötigt würden. "Wer meint, die Sache mit dem Coronavirus werde übertrieben, der soll bitte in unsere Abteilung kommen."

Cremona liegt nur 28 Kilometer entfernt von Codogno in der Lombardei. Dort wurde die erste Erkrankung diagnostiziert, dort liegt bis heute das Epizentrum der sich rapide ausbreitenden Viruskrankheit. Die aktuellen Zahlen vom Dienstag signalisieren Alarmstufe Rot für die Lombardei: 1280 neue Ansteckungen und 76 weitere Tote binnen 24 Stunden. Bereits 440 Erkrankte liegen in der Region auf den Intensivstationen verschiedener Krankenhäuser. "Weitere zwei oder drei Wochen einer derart verrückten Zunahme an Personen in den Notaufnahmen und auf den Intensivstationen würden wir nicht mehr durchhalten", warnt Giulio Gallera, der Gesundheitsbeauftragte der Lombardei.

Intensivstation im Krankenhaus von Cremona: Szenen wie aus einem Endzeitfilm

Intensivstation im Krankenhaus von Cremona: Szenen wie aus einem Endzeitfilm

Foto: LA7 PIAZZAPULITA/ via REUTERS

Innerhalb von zwei Wochen sei es gelungen, immerhin 223 zusätzliche Plätze auf Intensivstationen zu schaffen, 150 weitere seien geplant. Aber der Bedarf wachse unaufhaltsam - ein Drittel aller Erkrankten sei mittlerweile jünger als 65 Jahre. Die Option, weitere Betten in Containern oder in Pavillons auf dem Mailänder Messegelände unterzubringen, werde ernsthaft erwogen, sagt Gallera. Die psychische und physische Belastung des Personals in den Krankenhäusern beschreibt er mit den Worten einer Ärztin, die an vorderster Front steht: "Die Augen des Patienten, den ich heute morgen ans Beatmungsgerät angeschlossen habe, werde ich nie vergessen."

"Jeder Arzt, jede Krankenschwester ist hier am Anschlag"

Raffaele Bruno, Chefarzt am Krankenhaus San Matteo in Pavia

"Corona kam wie ein Tsunami über uns", klagt Raffaele Bruno, Chefarzt für Infektionskrankheiten am Krankenhaus San Matteo in Pavia. Auch diese Stadt liegt in der Lombardei, auch sie nur etwa 30 Kilometer von Codogno entfernt. Hier wurde der sogenannte "Patient Nummer 1" auf der Intensivstation behandelt, ein 38 Jahre alter Manager. Bruno sagt, sein Personal und er hätten in den vergangenen Wochen oft 18 Stunden am Tag durchgearbeitet. "Jeder Arzt, jede Krankenschwester ist hier am Anschlag." Im Moment gäbe es zwar noch ausreichend Betten auf der Intensivstation, "aber keiner weiß, ob der Höhepunkt der Epidemie vor oder hinter uns liegt".

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In den sozialen Medien ging ein Foto viral, das die Ärztin Francesca Mangiatordi hochgeladen hatte. Mangiatordi arbeitet in der Notaufnahme des Krankenhauses Maggiore in Cremona; sie fotografierte dort die Krankenschwester Elena Pagliarini, die völlig erschöpft - mit Einweghandschuhen, Haarnetz und Schutzkleidung - auf ihrem Schreibtisch eingeschlafen war. In einem Interview mit dem italienischen Onlineportal "Nurse Times" sagte Mangiatordi, jahrelang sei im italienischen Gesundheitswesen gespart worden. Man habe Betten reduziert, Krankenschwestern schlecht bezahlt.

"Und jetzt stehen wir vor dieser riesigen Herausforderung. Wir wissen gar nicht, wie wir die Schichten besetzen sollen." Das Personal renne von Patient zu Patient, berichtet Mangiatordi, "wir sind nicht in der Lage, allen gerecht zu werden". Krankenschwester Pagliarini sagte im Interview mit "La Repubblica" über das Foto von ihr: "Meine Schicht war noch nicht vorbei, aber ich war so erschöpft."

"Die Situation ist dramatisch"

"Die Situation ist dramatisch", erzählt auch Guido Marinoni vom Ärzteverband im lombardischen Bergamo. "Noch schaffen wir es, die am schwersten an Atembeschwerden leidenden Patienten aufzunehmen, aber selbst solche mit beidseitiger Lungenentzündung müssen wir nach Hause schicken. Ihnen bleibt nur die Behandlung durch den Hausarzt."

60 Prozent der schwer erkrankten Italiener leben in der Lombardei. Können andere Regionen Hilfe anbieten? gerade einmal 15 Patienten sind verlegt beziehungsweise ausgeflogen worden - in die Toskana, ins Latium, ins Friaul. Solange die Angst umgeht, das Virus könne sich auch dort schlagartig und flächendeckend ausbreiten, ist die Bereitschaft gering, Betten in den Abteilungen für Infektionskrankheiten abzutreten. Wie soll man noch reagieren, wenn man die Betten selbst braucht?

Die wenigen guten Nachrichten aus Italien gehen in der Flut der alarmierenden Berichte aus den italienischen Krankenhäusern fast unter. Doch es gibt sie: Der "Patient Nummer 1" hat im Krankenhaus San Matteo in Pavia inzwischen die Intensivstation verlassen können, er atmet wieder selbstständig. Und dem Spendenaufruf, den der Rapper Fedez und seine Frau zugunsten der Mailänder San-Raffaele-Klinik starteten, sind bereits nach einem Tag 165.000 Italiener gefolgt. Der Ertrag: 3,1 Millionen Euro.

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